Weil es November
ist, ist es dunkel draußen. Es gibt keine Blätter mehr an den Bäumen und es
regnet. Und es ist kalt.
Die Neonreklamen
spiegeln sich im Straßenpflaster. Ich habe die Hände in die Manteltaschen
gesteckt, weil ich friere. Aber eigentlich friere ich gar nicht richtig, es hat
sich nur in meinem Inneren eine eisige Kälte ausgebreitet, die mich zittern
lässt.
Ich bleibe
stehen und betrachte ein Plakat mit Zigarettenwerbung:
„Jung sein heißt
frei sein!“
Aha, denke ich,
so ist das. Ich bin siebzehn Jahre alt. Aber das spielt keine Rolle mehr,
jetzt. Denn ich war bereits gestorben. Wenn man tot ist, zählt man keine Jahre
mehr.
Ich hatte schon
vergessen was ich tun wollte, als ich mir das Plakat ansah. Ich strengte mich
an mich zu erinnern, aber es gelang mir nicht. Es war auch nicht mehr wichtig,
denn ich war schon gestorben und Tote haben keine Erinnerungen.
Das Plakat
grinste mich breit an und sagte:
„ Da stehst du und bläst
Trübsal: Du bist doch jung: Jung sein heißt frei sein. Du musst dich freuen.
Freiheit ist Glück und Jugend ist Freiheit! Jugend ist Glück!“
Es hatte nicht
Recht, das Plakat, ich wusste es besser. Tote sind nicht glücklich. Und ich war
ja tot. Ich war auch nicht jung. Tote sind nicht jung.
Ich glaube, ein
Auto fuhr vorbei. Ich musste in seine starren Augen sehen. Es rief mir etwas zu. Ich verstand es nicht. Ich
glaube, es hupte mir im Vorbeigehen einen guten Abend zu, aber das weiß ich
nicht genau, denn ich war ja tot.
Ich sage dem
Plakat gute Nacht und ging weiter. Ich wunderte mich, dass ich keine Menschen
traf. Eine Stadt konnte doch um diese Zeit
nicht so menschenleer sein: Nur das Straßenpflaster sprach mit mir: „
Warum bist du traurig? Du bist doch traurig? Deine Schritte haben mir das
erzählt. Aber du darfst nicht traurig sein. du musst dich freuen!“
Ich dankte ihm,
aber es irrte sich. Ich war tot und mit
mir war die Freude gestorben.
„Nanu“, sagte
das Neonlicht, „nanu, du weinst? Mir hat die Straße erzählt, dass du nicht mehr
lachst. Warum? du enttäuscht mich!“
Ich wollte ihm erzählen, dass ich
gestorben war, aber ich ahnte, dass es das nicht verstehen würde. So versuchte
ich ihm zuzulächeln. Es lächelte mir zurück.
Die Häuser
flüstern im Vorübergehen miteinander. Sie erzählten, glaube ich, von ihren Tageserlebnissen.
ich blieb stehen und lauschte. Ein altes Haus hatte Angst, dass es abgerissen
werden sollte. Die übrigen Häuser versuchten es zu trösten. Ich stand und hörte
zu. Sie fragten mich um Rat. Was sollte ich ihnen sagen? Ich durfte sie nicht belügen,
denn sie waren immer meine Freunde gewesen.. Ich kannte das alte Haus und als
ich noch lebte, hatte ich in der Zeitung gelesen, dass man es abreißen würde.
Aber ich konnte das nicht erzählen. Ich durfte das alte Haus nicht unglücklich
machen. So schwieg ich, als hätte ich nichts gehört.
Ich glaube, die
Schatten, die an mir vorüberschwebten wie vom Wind getrieben, waren Menschen.
Ich ahnte es. Aber die Schatten bemerkten mich nicht. Ich war ja tot.
Ich traf noch
viele Freunde. Die Bäume, sie waren jetzt auch tot. Aber sie sagten mir, dass
sie auf den Frühling warteten. Sie wussten nicht, dass sie gestorben waren.
Aber ich wusste es.
Eine alte
Freundin, die Straßenbahn, rief mir einen guten Abend zu. Wie es mir ginge,
fragte sie. Ich antwortete, nicht schlecht, ich sei heute gestorben. Die Bahn
lachte und rief mir zu, ich solle einsteigen. Ich tat es. Wir fuhren lange.
Dann bedankte ich mich für die Gastfreundschaft und stieg aus. die Straßenbahn
winkte, als sie zurückfuhr.
Ich fand mich
allein. Doch nicht lange, da kam der Wind und sprach zum mir. Er fragte, ob ich
mit ihm spielen wollte. Nein, sagte ich, ich sei gestorben und Tote spielten
nicht. Ich glaube er lachte mich a
us, als er mit
den Gräsern und den Regetropfen flirtete. Es war mir gleich, dass er lachte.
Der Fluss erkundigte sich nach meinem Befinden. Ich antwortete nicht. Er fragte das Brückengeländer, warum ich schwieg. Es kannte mich, denn ich stand über ihm gebeugt und streichelte es. Es machte dem Fluss ein Zeichen mich nicht zu fragen. Der Fluss flüsterte mir zärtliche Worte zu. Er versprach mir raunend Liebe. Ich lachte ihn aus.
Da vernahm ich
hinter mir Schritte. Sie klangen regelmäßig wie das Ticken einer Uhr. Das Ticken
wurde lauter und neben mir hörte es auf. Ich wandte mich ihm zu.
„Wer bist du“
fragte ich.
„Du weißt schon
wer ich bin, denn ich habe dich gerufen. Ich bin die Zeit!“
Das Raunen des
Flusses nahm zu und das Brückengeländer
begann zu zittern. Ich horchte auf.
Ja, die Zeit
hatte mich gerufen.
„Setz dich neben
mich und ruh dich aus, wenn du mit mir sprichst. Warum bist du gestorben?“
Die Zeit wandte
mir ihr Gesicht zu. Es war ein frohes Gesicht und ein junges Gesicht, das
lächelte. Die Zeit hatte graue Haare.
Ich setze mich neben sie und antwortete:
„Die Hoffnung
hat mich verlassen, liebe Zeit. Sie ist einfach fortgegangen. Nun bin ich
gestorben.“
„Ach,“ sagte die
Zeit, „ ach, die Hoffnung war gestern
bei mir. Sie sagte, sie sei vertrieben worden. Du hättest sie aufgegeben, da
sei sie geflohen.“
„Ja, die
Einsamkeit hat die Hoffnung verjagt.“
„Ach „ lächelte
die Zeit, „die Einsamkeit ist bei dir? die Hoffnung ist vor der Einsamkeit
geflohen? die Hoffnung handelte nicht gut, sie hat dir Angst gemacht. Und die
Einsamkeit wohnt bei dir? Ich hatte sich schon gesucht.“
„ja, die
Einsamkeit und die Angst haben sich in meinem haus breitgemacht und dich werde
sie nicht mehr los. Sie haben meine Vorräte aufgegessen und auf meinem Bett
geschlafen. Sie haben sich Gäste eingeladen, mit denen sie feiern. Es kamen die
Langeweile, die Traurigkeit, die Verzweiflung und der Hass. Ich habe keine
Macht über sie. Sie haben die Liebe getötet. Sie haben die Freude getötet. Ich
habe es gesehen!“
Ich weinte. die
Zeit legte ihren Arm um mich und sprach mit warmer Stimme: „Weißt du, ich werde
dir helfen. Ich habe Macht über die Einsamkeit und ihre Freunde. Ich werde mein
Gericht einberufen und sie verurteilen. Du darfst zusehen wie sie verbannt
werden. Du hast dich geirrt, die Liebe ist nicht tot und die Freude lebt auch. Sie waren nur ohnmächtig und
gefesselt. Du musst nur Geduld haben. Ich werde dir die Geduld schicken.“
Die Zeit
verabschiedete sich und ging. Ich hörte nicht mehr das lockende Werben des
Flusses und spürte nicht mehr das Zittern des Brückengeländers, denn ich wurde
gerade geboren.
Ich höre
Schritte. Eine aufgeregte Stimme ruft meinen Namen:
„Was machst du
hier? Ich habe dich überall gesucht!“
Ich sehe, dass
er geweint hat. Ich verstehe nicht
warum.
„Ich bin spazieren
gegangen!“ sage ich.
„Komm jetzt, wir
gehen nach Hause! Lauf nie mehr weg, ich hatte solche Angst!“ drängt er.
Ich sehe seine
Augen. Sie sind tiefblau. Er nimmt
meine Hand. Ich sehe seine Erleichterung und antworte nachdenklich:
„Nach Hause gehen
wir, ja, nach Hause.“
21. November
1972
im Andenken an
eine dunkle Zeit
_____________________________________________________________________________________________________________
natur, kosmos und jahreszeiten
seelenbilder – gedichte und bilder