Alle hatten sie einen Brief gleichen Inhalts bekommen. Alle öffneten das Kuvert mit gewissem Unbehagen, denn die allen wohlbekannte Handschrift rief Erinnerungen hervor, die man schon längst begraben und verdaut glaubte. Manchen zauberte die Erinnerung noch ein wehmütig - sinnliches Lächeln auf die Lippen, doch die meisten hätten den Brief am liebsten ungelesen weggelegt.
Die Erinnerung tat auch weh, manchmal...
Dennoch, der Text verführte durch seine ordentliche Struktur und den Blickfänger „HOCHZEIT“, in Großbuchstaben geschrieben, als hätte die Schreiberin befürchtet mit ihrem Anliegen sonst kein Gehör zu finden. Die Gedanken waren klar dargelegt und so lasen alle bis zum Ende, was sie in rührige Aufregung und einen Zustand unstillbarer Neugier versetzte:
„ Mein teurer Freund,
selbst wenn es dir nach all den Jahren , die nun verstrichen sind und in denen wir uns nichts zu sagen hatten, seltsam vorkommt von mir zu hören, so sei gewiss, dass ich dich im Trubel der Zeiten, die nach dir kamen, nie vergessen habe. Ja, gerade an DIR verfingen sich meine Gedanken, wenn ich eine neue Haut strich oder in neue Einsamkeit fiel. Mir fehlte nur der Mut nach dir zu rufen.
Doch jetzt, so scheint mir, ist der richtige Zeitpunkt gekommen dich um ein Wort und sogar ein Wiedersehen zu bitten.
Am 25. dieses Monats, wie du dich erinnerst, an meinem vierzigsten Geburtstag, werde ich meine Hochzeit feiern. Und an diesem Tag sollst DU nicht fehlen, du , dem ich einmal meine ganze Liebe geschenkt hatte.
Marianne“
Keiner von ihnen konnte
diesen Text lesen ohne zutiefst angerührt zu werden.
Erinnerungen flossen
plötzlich in reißenden Strömen durch das Gehirn und kaum einer konnte sich
dieses Sogs erwehren. Alle gaben sie ihre inneren Widerstände auf und ließen
sich mittragen.
Marianne!
jeder
dachte geschmeichelt: von allen hat sie also mich am liebsten gehabt. ja aber
ich aber sie auch einmal geliebt, aber das ist so lange her ... wie ein Traum.
Die Zeiten ändern sich nun mal. Aus Wunden werden Narben und selbst die
verblassen...
Die
von ihr Verlassenen spürten noch einmal
den Schmerz, den die Trennung ausgelöst hatte, aber er war nun ganz fern: ein
leichtes Glühen im Herzen - mehr nicht.
Marianne
wollte sie nun wieder sehen, sie war
wohl endlich zur Vernunft gekommen. Damit hatten sie nicht mehr gerechnet.
Nur leider
wollte sie jetzt heiraten; und den Verlassenen erschien die
Eifersucht als glühender Draht in ihrem Inneren, nicht heiß genug sie zu
verbrennen aber warm genug Fantasien zum Erleuchten zu bringen.
Diejenigen,
die Marianne einst verlassen hatten, erinnerten sich ihrer mit leichtem
Unwillen.
Was
wollte denn diese Frau noch von ihnen. Diese ganze Geschichte war doch schon
gar nicht mehr wahr; solange war das her, seit man getrennte Wege ging.
Verschiedene Ziele anstrebte...
Wollte
sie sich vielleicht rächen durch diese Einladung zur Hochzeit?
Wollte
sie vielleicht damit sagen: du warst
meiner nicht würdig, mein Freund?
Aber
der Ton ihres Briefes sprach dagegen und letztendlich fühlte man sich von ihrer
Anhänglichkeit doch geschmeichelt.
Alle
kamen sie also.
Alle
brachten ihr ein Geschenk, das, wie sie meinten, angemessen auszudrücken
imstande war, was ihnen damals die
Beziehung mit ihr bedeutet hatte.
Blumen
vor allem und Süßigkeiten. So manch einer erinnerte sich an ihren
Lieblingsschriftsteller und ihre Vorliebe für ausgefallene Musik und
überreichte ihr ein Buch oder eine CD. Einer schenkte ihr sogar einen
Granatring, was alle anderen zu missbilligenden Äußerungen provozierte. Eine
Unverschämtheit war das!
Da
richtet man sich darauf ein, als einziger von all ihren vergangenen Liebhabern
zu ihrer Hochzeit geladen zu sein und sieht sich nicht allein vor die Tatsache
gestellt, plötzlich allen Nebenbuhlern, Vorgängern und Nachfolgern gegenüber
stehen zu müssen...
nein,
außerdem muss man sich durch das wertvolle Geschenk dieses Potenzprotzes ( wie
oft mochte er es wohl noch mit ihr getrieben haben, man hört, er sei ihr
letzter Liebhaber gewesen, dem sie die Gunst ihres Körpers gewährt hatte, bevor
sie sich entschloss, einem mysteriösen Unbekannten die Ehe zu versprechen)
erniedrigen und demütigen lassen.
Hätte
sie nicht begütigend in den Unmut eingewirkt, so hätten die ersten Gäste die
Feier schon verlassen, bevor sie erst richtig anfing
Natürlich
wartete man gespannt auf das Erscheinen des Bräutigams. Und alle fragten sich
natürlich auch: was hat der nun was ich
nicht hatte.
Sogar
diejenigen, die die Affäre mit Marianne von sich aus aufgekündigt hatten,
spürten innerlich einen Stich des Neids. Denn sie mussten zugeben, Marianne war
keine schöne, doch eine ungewöhnliche Frau und das Zusammensein mit ihr war
eher anstrengend als langweilig gewesen. Der Grund mit ihr zu brechen war für die meisten, dass sie sich schämten,
nicht dauernd so voll Leben und Energien und Kreativität zu sprühen wie die
Geliebte...
Der
Bräutigam ließ auf sich warten. Marianne tat geheimnisvoll, er sei erst ab
Mitternacht frei. Dann sollte auch die Zeremonie vollzogen werden und alle
dürften dabei die Trauzeugen sein.
Nun es
war noch weit vor Mitternacht, das Essen war exklusiv und der Wein vorzüglich.
So mancher vergaß in seinem seligen Rausch, dass er eigentlich einem ehemaligen
Rivalen gegenüber stand, dass der Man, den er nun trunken kameradschaftlich umarmte, einstmals in der
leidenschaftlichen Umarmung mit Marianne ebenso vor Lust geschnauft hatte wie
er selbst einmal. Das war vergessen., man verstand sich blendend.
Was
Wunder auch, denn man hatte dieselbe Frau geliebt und viele Gemeinsamkeiten.
Es waren
ihrer zehn und es waren alle Männer, die sie in den vierzig Jahren ihres Lebens
geliebt und mit denen sie eine besondere Beziehung verbunden hatte.
Es
hatte mehr Männer gegeben für sie, flüchtige Kontakte, Befriedigung ihres
Hungers nach Zärtlichkeit, Wärme und
Lust. Sie dachte an solche Begegnungen zurück wie an ein besonders gelungenes,
schmackhaftes Essen, aber das ließ ja auch nichts zurück, wenn es einmal aufgegessen war.
Die
Männer, die sie nun hier eingeladen hatte, die waren über Monate, ja Jahre mit
ihr liiert gewesen und manchen von ihnen hätte sie vielleicht aus einer Laune
heraus auch geheiratet, früher..... wenn ihr nicht ihre Freiheit mehr bedeutet
hätte als jemals ein Mann.
Mit
zweien von ihnen hatte sie sogar zusammengelebt: der eine ein Relikt aus ihren
Studienzeit, ihre erste große Liebe, die sich auch gleichzeitig als erste große
Enttäuschung erwiesen hatte, der andere ihr momentaner Liebhaber, mit dem sie eine zärtliche tiefgehende und eher
geistige Verbindung trug. Er war es auch, der ihr, wie um sich von allen
anderen abzuheben, den Granatring schenkte. Einzig und allein seinetwegen
schlichen sich ihr auch ein paar Tränen in die Augen, da sie ihn ebenso wie
alle anderen nun für immer verlassen und sich ganz einem anderen widmen wollte.
Aber
sie ließ sich von ihrem Entschluss
nicht abbringen und rief mitten in die fröhliche Runde der Trinkenden und sogar Musizierenden ( sie hatte eine Vorliebe für
Musiker gehabt und so hatten einige ihre Instrumente mitgebracht um noch einmal
vor ihr spielen, wie früher sooft):
„Es ist soweit! Es ist
Mitternacht und ich möchte euch nun in das Hochzeitszimmer bitten, wo mein
Bräutigam auf mich wartet!“
Gespanntes Gemurmel erhob sich und so manchem
lief ein Schauer über den Rücken. Aber man folgte ihr in das Zimmer. Sie stieß
die Tür auf, dann folgte ein kollektiver Aufschrei:
Das
war ja nun wirklich zuviel der Exzentrik. Das war ja schon sadistisch und makaber!
Aber
sei lächelte und winkte ihnen den Raum zu betreten.
Er war
ganz in rotem Samt ausgekleidet, so dass man unwillkürlich an Edgar Allan Poe´s
Geschichte Der Rote Tod erinnert wurde, was die Beklemmung noch verstärkte.
Mitten im Zimmer stand ein aufgebahrter Sarg mit geöffnetem Deckel und weißen
Kissen drin. An allen vier Ecken des Sarges brannte je eine dicke Altarkerze.
Der schwere Duft von Weihrauch hing darüber. Und wo war der Bräutigam??
Marianne
trug nun ein weißes Brautkleid mit Schleier und sie ging von Mann zu Mann und
sah jedem tief in die Augen, lange. Dann küsste sie jeden auf den Mund und
drückte sich einen Moment lang an ihn, wie um ihn zum Liebesspiel aufzufordern.
Aber
niemand nahm diesen Ball auf, den sie ihm zuwarf. So seufzte sie nur und legte
sich in den Sarg. Da brach das unheilvolle Schweigen, das die ganze zeit über
dem Raum gelegen hatte.
„MARIANNE!“
ein
kollektiver Aufschrei
„das ist doch nicht dein Ernst! Das ist doch geschmacklos! Wo ist dein Bräutigam??“
Sie
richtete sich noch einmal im Sarg auf
und lächelte hintergründig.
„Mein Bräutigam, liebe Freunde, das ist der TOD!“
Und
indem sie das sagte, zerbiss sie eine Kapsel, die sie wohlschon geraume Zeit
im Mund getragen hatte. Es roch nach
Mandeln und man wusste: gegen dieses Gift gibt es keine Rettung.
Wie in
Stein gebannt sah man ihrem Sterben zu. Beobachtete jeden ihrer Krämpfe, als
tanze sie einen lasziven Tanz. Stierte auf den Speichel aus ihrem Mund, als
verginge man in einem
leidenschaftlichen Kuss und ihr letzter Seufzer klang ihnen so im Ohr, als
ließe sie sich auf dem Höhepunkt ihrer
Lust gehen .
Man
war wie gelähmt und schaut. Schaute und schaute.
Als sie längst stumm, reglos und tot in ihrem Sarg lag. löste sich
der Bann von den Robustesten unter ihnen. Und das waren doch diejenigen ,die
SIE einst verlassen hatte. Man wandte sich ab und schlich hinaus in die
Dunkelheit und Einsamkeit, schlich mit gesenktem Kopf und klopfendem Herzen,
mit einer unbestimmten Angst wie ein Mörder gleich nach der Tat.
Und
doch, sie alle traf keine Schuld. Und viel später erst erkannten sie, dass der
Beweis für Mariannes Liebe, die Zeit und Personen überdauert hatte, war, dass
sie an ihrem bewusst gewählten Abschied aus dieser Welt, die ihr, die nichts
mehr liebte als die Freiheit, absolute Freiheit nur im Tod gewähren konnte, teilnehmen
ließ. Und keiner vergoss mehr als eine Träne um sie.
Auf
der Beerdigung traf man sich wieder und außer ihnen nahm niemand an der
Bestattung teil.
04.
April 1983
©g.bremer2001
Natur, Kosmos und Jahreszeiten
Seelenbilder – Gedichte und
Bilder